1. Mai 2020 und Frauen in Indien unter dem Corona Lock Down

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Die Generalsekretärin der Nationalen Frauenvereinigung indischer Frauen, Annie Raja berichtet in einem Skype Interview über die Situation der armen Bevölkerung in Indien insbesondere der Frauen unter dem Coronavirus und dem schlecht vorbereiteten Lockdown der Modi-Regierung. Sie erklärt auch, warum in Kerala die Bevölkerung so viel besser versorgt ist als im Rest des Landes.
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15:18 min, 24 MB, mp3
mp3, 214 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 10.05.2020 / 16:30

Dateizugriffe: 10

Entstehung

AutorInnen: Radio LoRa, Bianca Miglioretto
Radio: LoRaZH, Zürich im www
Produktionsdatum: 10.05.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Script Annie Raja

Annie Raja ist die Generalsekretärin der Nationalen Frauenvereinigung indischer Frauen – National Federation of Indian Women und Führungsmitglied der Indischen Kommunistischen Partei. Sie ist ursprünglich aus Kerala und lebt heute in Delhi.
Sie war die Hauptrednerin am letztjährigen 1. Mai in Zürich.
Sie schickt revolutionäre Grüsse zum 1. Mai und hofft, dass die Post-Corona Ära Gerechtigkeit und Freiheit für alle auf der ganzen Welt bringen wird unabhängig von ethnischer Herkunft, Kaste und Geschlecht.
In einem Skype interview berichtet sie über die Situation der armen Bevölkerung in Indien insbesondere der Frauen unter dem Coronavirus und dem schlecht vorbereiteten Lockdown der Modi-Regierung. Sie erklärt auch, warum in Kerala die Bevölkerung so viel besser versorgt ist als im Rest des Landes.

Der 1. Mai war sicher auch in Indien ganz anders als in früheren Jahren. Wie war der diesjährige 1. Mai?

Wir haben einen kompletten Lockdown im ganzen Land. Wir konnten nicht rausgehen und Demos oder ähnliches organisieren. Aber wir haben mit unseren Genossinnen und Genossen via Facebook und online chats kommuniziert. Wir standen mit unseren roten Fahnen auf unseren Balkonen oder vor unseren Hütten. Es war also total anders. Aber wir werden weiter für die Rechte der arbeitenden Menschen kämpfen.


Hat die feministische Bewegung anlässlich des 1. Mais bestimmte Forderungen aufgestellt?


In Indien gibt es fast eine Million akkreditierte Gesundheitsarbeiterinnen. Aber sie werden nicht als Arbeiterinnen anerkannt, sie erhalten nicht mal den Minimallohn. Ihnen wird weniger alss ein halber Dollar pro Tag bezahlt. Während der Coronakrise stehen sie an vprderster Front ohne die nötige Schutzausrüstung.
Deshalb fordert meine Organisation, die Nationale Vereinigung Indischer Frauen, dass diese Gesundheitsarbeiterinnen anerkannt werden und alle Rechte und Sozialleistungen als Arbeiterinnen erhalten.

Welche Massnahmen hat die Modi-Regierung in Indien gegen das Coronavirus ergriffen?

Präsident Modi rief einen nationalen Lockdown ohne jegliche Vorbereitung aus. Die Menschen hatten keine Zeit sich auf die Ausgangssperre vorzubereiten. Dies führte zu grossen Problemen, die von der nationalen Regierung viel zu langsam angegangen wurden. Um die arbeitenden Menschen etwas zu unterstützen, gab die Regierung schlussendlich bekannt, dass die sie 5 kilo Getreide, ein Kilo Linsen und etwas Geld bekommen. Aber das gesamte Hilfspaket beträgt weniger als 1% des Bruttosozialprodukts. Es ist also fast nichts. Trotzdem halten sich alle an die Massnahmen, sei es auf dem Land, seien es Migrantinnen und Migranten oder Menschen die in den Städten festsitzen.

Wie stark ist Indien vom Coronavirus betroffen?

Im Vergleich zu anderen Ländern verzeichnet Indien weniger Coronainfiszierte und Tote.
Dies ist nur dank den Bemühungen der lokalen Regierungen der verschiedenen Staaten in Indien,
Weitaus am Besten reagierte der Staat Kerala, der von der Kommunistischen Partei regiert wird. Darüber wurde sogar in den internationalen Nachrichten berichtet.

Welche Massnahmen hat Kerala ergriffen, die eigentlich Aufgabe der Zentralregierung wären respektive auch andere Staaten in Indien hätten ergreifen sollen?


Die Modi-Regierung unterbreitete dem Obersten Gerichtshof von Indien einen Bericht. Darin steht dass von den über 22 000 Hilfscamps, sich 15 000 im Staat Kerala befinden. Mit anderen Worten fast 70% der Camps sind in Kerala. Aber die Zentralregierung zahlte Kerala nur knapp 1,5 % der Corona Hilfe an die Staaten.
Kerala schneidet viel besser ab als alle anderen indischen Staaten, weil wir in Kerala ein gutes Gesundheitssystem haben, das von der Dorfklinik über die Distirkklinik bis zur hochspezialisierten Klinik in der Stadt reicht. Die öffentliche und die private Gesundheitsversorgung in Kerala sind hervorragend.

Wie genau isieht ein Hilfscamp aus?

Die Obdachlosen und Migrierenden schlafen oft auf der Strasse oder bis zu 30 Personen in einem Zimmern. Die Hilfslager bieten ihnen eine Unterkunft. Einige Camps befinden sich in Gebäuden andere bestehen aus vielen Zelten, wo die Leute ein Dach über dem Kopf haben. Dort erhalten sie Mahlzeiten und medizinische Versorgung. Wenn bei einer Person Corona diagnostiziert wird, wird sie an ein Spital überwiesen.

Wie sieht die Situation für die Frauen unter dem Lockdown aus?

Die Nationale Kommission für Frauenrecht hat einen Bericht veröffentlicht, der besagt, dass häusliche Gewalt sich unter der Ausgangssperre vervielfacht hat.
96% der Arbeitenden Frauen arbeiten im informellen Sektor. Sie werden auf unterschiedlichste Art und Weise ausgebeutet. Sie erhalten weder Minimallohn und haben Jobsicherheit. Wie sollen sie mit dieser Situation zu recht kommen?
Eine Familie bestehend aus Vater Mutter 3-5 Kinder und alle zu Hause ohne Einkommen. Das ist wahnsinnig schwierig. Normalerweise gehen die Kinder zur Schule und erhalten dort ein Mittagessen. Ein Anreiz für die arme Kinder zur Schule zu gehen. Die Schulen sind geschlossen und die Kinder erhalten nicht mal diese Mahlzeit.. Schule bedeutete spielen. Das ist alles nicht mehr möglich.

Die indische Gesellschaft ist patriarchal. Früher konnten sich die Frauen wenigstens hie und da noch eine Viertelstunde Ruhe gönnen. Das ist jetzt wo alle zu Hause sind nicht mehr möglich.
Viele Männer in Indien konsumieren Alkohol. Alle Alkoholläden sind geschlossen. Die Frauen müssen die ganze Wut und Frustration auffangen.
Wenn wir über die Gründe der häuslichen Gewalt sprechen, müssen wir auch über die Behausung sprechen. Millionen von Familien leben in kleinen Hütten und die ganze Verantwortung lastet auf den Frauen. Die Regierung verteilt jetzt Lebensmittel an arme Familien und es sind wieder die Frauen, die diese beim Verteilzentrum holen müssen. Die Polizei belästigt sie, weil sie während der Ausgangssperre raus gehen.
Die Tatsache, dass die ganze Familie jetzt schön vereint ist, macht die Frauen nicht glücklich, sondern verursacht ihnen noch mehr Stress. Die Frauen tragen die Hauptlast dieses Lockdowns.

In etwa einer Wochen soll der Lockdown in Indien gelockert werden. Was wirst du dann unternehmen?

Covid hat uns einen anderen Blick auf die Sachen ermöglicht. Kerala kann so gut auf die Situation reagieren, weil die Macht bei den Leuten liegt auf Gemeindeebene, den Panchayats.
Die Gesellschaft sollte nicht von oben nach unten sondern von unten nach oben organisiert werden. Nach diesem Interview werden wir ein Onlinetreffen meiner Organisation haben. Und genau darüger werden wir sprechen.
Das Panchayat-System als Regierungsform auf Dorfebene gibt es im ganzen Land, aber nur in Kerala erhalten die Gewählten im Panchayat einen Lohn. Die Mitglieder der Parlamente auf Staats- oder Nationaler Ebene erhalten Lohn und Rente. Aber diejenigen, die im direkten Kontakt mit der Bevölkerung an der Basis sind, erhalten gar nichts, ausser in Kerala. Wir müssen die Strukturen an der Basis stärken. Wie können nicht weiter auf die alte Art und Weise funktionieren.
Das ist die Herausforderung für Organisationen wie unsere und insbesondere für Regierungen.
Die Post Covid-Ära wird anders sein.


Das war ein Interview mit Annie Raja, Generalsekretärin der Nationalen Vereinigung Indischer Frauen - National Federation of Indian Women und Führungsmitglied der Kommunistischen Partei von Indien. Sie sprach über den diesjährigen 1. Mai und die Situation unter dem Coronavirus für die armen Leute , speziell für die Frauen während dem Lockdown der Modi Regierung in Indien. Sie erklärte auch, weshalb im kommunistisch regierten Staat Kerala, die Menschen so viel besser versorgt sind als im Rest des Landes.

Das Interview mit Annie Raja führte Bianca für Radio LoRa Zurich.
Die Übersetzung las Julia.

Die Musik ist von der Indischen Sängerin Shuba Mugdal