"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Boulevard -

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Als ich an dieser Stelle vor zwei oder drei Jahren meckerte, dass unser neutrales und objektives Schweizer Satireduo Giacobbo&Müller bei seiner wöchentlichen Sendung am Sonntagabend neuerdings auch auf Lachkonserven zurückgreife, sandte der Müller-Teil davon umgehend eine Richtigstellung, wonach ihre Lacher im Zürcher Kaufleuten-Saal immer live seien.
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11:36 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 25.02.2014 / 15:54

Dateizugriffe: 389

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 25.02.2014
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Als ich an dieser Stelle vor zwei oder drei Jahren meckerte, dass unser neutrales und objektives Schweizer Satireduo Giacobbo&Müller bei seiner wöchentlichen Sendung am Sonntagabend neuerdings auch auf Lachkonserven zurückgreife, sandte der Müller-Teil davon umgehend eine Richtigstellung, wonach ihre Lacher im Zürcher Kaufleuten-Saal immer live seien. Dass ich dies dem Erfurter Hörpublikum erst jetzt zugänglich mache, hat einen völlig anderen Grund, wie sich dies spätestens seit Monty Python für jede rechtschaffene Produktion gehört: Nämlich ist eben besagter Müller-Teil in der Zwischenzeit derart immens gestiegen in der Gunst des Deutsch­schweizer Publikums, dass er, ganz wie einige deutsche Kabarettisten, eine eigene Krimireihe auf den Leib geschneidert erhielt, welche den schönen Namen «Der Bestatter» trägt und, wie es sich gehört, nicht übermäßig viel Wert legt auf die KTU oder auf eine absolut lückendicht gewebte Verbrechensgeschichte, sondern in erster Linie dazu dient, die Gemütslagen des Herrn Bestatter sowie der ihn umgebenden Personen anhand einer durchaus witzigen Dialogführung zu illustrieren. Für ein deutsches und namentlich ein ostdeutsch-thüringisches Publikum ist diese Welt leider nicht zugänglich, weder sprachlich noch witztechnisch, sodass Ihr Euch mehr oder weniger blind auf mein Urteil verlassen müsst, und dieses fällt durchaus positiv aus. – Übrigens auch bezüglich der Satiresendung am Sonntag, die nach dem seinerzeitigen Hänger wieder angezogen hat und oft nach meinem Gusto und in einigen gespielten Einblender-Szenen sogar ausgezeichnet ist, immer halt unter dem Vorbehalt des strikt deutschschweizerischen Rahmens, welcher an diese Kunstform sehr schwierige Anforderungen stellt. – Als Beispiel für diese gelungenen Sketches nenne ich einen Typen namens Hanspeter Burri, der sich jeweils vorstellt mit «Burri, Hanspeter», etwas lispelt und insgesamt das getreue Abbild einer ganzen Kaste von Zivilschutz-Instruktoren ist, was Ihr wiederum nicht kennen könnt, weil Ihr zwar einen Zivildienst, aber niemals nicht einen Zivilschutz habt, die Welt ist eben doch größer, als man meint, vor allem im Kleinen. – Aber wie auch immer:

In einer dieser Krimifolgen ging es um einen Mord, bei dem ein Metzger in seinem eigenen Blutwurst-Sud verbrüht wurde. Vom Thema her ist der Zugang dann wieder wohl auch für Erfurter Verhältnisse sehr plausibel. Als die Kripo den Kerl aus dem Wurstbad zog, sah man einen Moment lang das entstellte Gesicht, und die Regie juxte noch einen drauf und ließ einen Beamten einen Zahn aus dem Mund des Opfers ziehen, «schau her, da ist sogar noch ein Schweinezahn», sagte er als Illustration dafür, was man in solchen Würsten alles verarbeitet; und übrigens muss ich an dieser Stelle noch anführen, dass der Sponsor der Satiresendung vom Sonntagabend tatsächlich die Marketing­orga­ni­sation «Schweizer Fleisch» ist. Es passte hier also erneut relativ viel relativ gut zusammen.

Tags darauf respektive am Abend des Folgetages, konkret am 5. Februar 2014, jammerte der «Blick am Abend» ein Ableger des Boulevardblattes «Blick», der wiederum ein Pendant zu eurer «Bild-Zeitung« ist, auf der Titelseite: «Ekelszenen im SRF-Hauptabendprogramm. Hat Mike Müller das nötig? Die Erfolgsserie „Der Bestatter“ zeigt eine verbrühte Leiche in Nahaufnahme.» Und tatsächlich: Keine zwei Wochen später erließ die Stadtzürcher Regierung ein Verbot, nein, nicht von verbrühten Leichen, sondern von Pistolen und Schwertern, und zwar für Kinder, und zwar während dem Karneval oder Fasching oder der Fasnacht, wie auch immer man das halt in den verschiedenen Regionen nennt. Die Sensibilität existiert also wirklich, mindestens bei den Schulbehörden, und der «Blick am Abend» hatte Recht, darauf Bezug zu nehmen. Dies aber tat er sehr gründlich; nämlich druckte die Redaktion auf Seite 4 auf einer Ein-Drittel-Seite eine Foto des verbrühten Metzgergesichts, und darüber zog sich der schöne Titel: «Muss der „Bestatter“ so brutal sein?» – In der Legende ging die Brutalität noch weiter: «Der Leiche wird ein Zahn gezogen», steht da ziemlich tatsachenwidrig, wobei der Begleittext die Wahrheit dann wieder herstellt und auch die moralischen Bedenken exponiert: «Um zehn nach acht Uhr, noch vor der Bettzeit vieler Kinder, zeigt das SRF in Großaufnahme, wie ein frittiertes Gesicht aussieht! Die Kamera hält voll auf den bestialisch umgebrachten Metzger, in Großaufnahme sieht man geschmolzene Haut, ein Schweinezahn wird ihm aus der Backe gezogen.» Und dann kommt die entscheidende Frage: Ist das zu viel für das frühe Abendprogramm? «Beim SRF schaut den Drehbuchautoren jedenfalls niemand auf die Finger. Die Bestatter-Programmmacher haben keine Direktiven, wie viel Sex und Gewalt und Ekel sie zeigen dürfen, so Nadine Gliesche, Projektleiterin Kultur beim SRF. Die Redaktion entscheidet das von Dreh zu Dreh.» Und mit diesem Zitat verabschiedet sich die Reporterin aus ihrem Text. Die Frage, ob diese Foto, welche von ein paar hunderttausend LeserInnen wohl mehr als drei Sekunden lang angestarrt wird, zu viel ist für das frühe Abendprogramm im «Blick am Abend», wird nur schon aus dem einfachen Grund nicht gestellt, weil der «Blick am Abend» kein öffentlich-rechtlicher und gebührenfinanzierter Fernsehsender ist, sondern seine Scheinheiligkeit in voller Pracht rein privat beziehungsweise werbefinanziert unter die Leute und an die öffentliche Meinung bringen darf.

Scheinheiligkeit? Das ist doch ganz einfach Boulevard, und ein abgebrühter oder auch nur weltläufiger Charakter genießt es geradezu, wie hier unter dem Vorwand von moralischen Bedenken ebendiese Moral sozusagen umgestülpt wird, analog zu jener Definition von Wurst, die nichts anderes sei als umgestülptes Fleisch. «Das darf man doch nicht zeigen», brüllt der Boulevard und veröffentlicht die hundertfach vergrößerte Detailaufnahme. Boulevard heißt mit anderen Worten: Solange die öffentliche Meinung doof genug ist, solche dialektischen Finten zu schlucken, soll sie sie auch haben. Und diesen Standpunkt kann man mit guten Argumenten vertreten. Bloß macht der Boulevard neben diesen Scherzchen auch noch Politik. Die Mutterzeitung «Blick» zum Beispiel ist seit gut einem Jahr beschäftigt mit der Hetze gegen einen Sozialhilfebezüger, welcher nichts anderes als sein gutes Recht auf Sozialhilfe geltend macht – es handelt sich, wie überall in ganz Europa, ziemlich genau um das Existenzminimum – und sich gleichzeitig weigert, als Gegenleistung irgend eine sinnlose oder vielleicht sogar sinnvolle Arbeit auszuüben. Der Boulevard macht daraus einen Skandal, und aus dem Skandal wiederum macht die rechtsnationalistische SVP eine Attacke auf die gesamte Sozialversicherung. Obwohl es sich um einen Schweizer handelt, notabene. Die Hunde sind verdammt hoch auflösend. Respektive: Sie beherrschen die Kunst der Alliteration, oder die Kunst der Alliteration beherrscht vielmehr sie, denn die Hetze gegen den Sozialhilfebezüger tönt genau gleich wie die Hetze gegen Sozialhilfebetrüger, und hier sind es dann schon die Ausländer, ihr kennt das ja mit der Einwanderung in die Sozialsysteme.

Dass der Boulevard sich daraus einen Skandal machen kann, liegt aber nicht einfach an seinem bösen Willen oder an seiner teuflischen Struktur, sondern daran, dass in der Bevölkerung die Ingre­di­en­zien bereit liegen, aus denen man eben den Skandal aufkochen kann. Im Fall des Sozial­hilfe­be­trü­gers, ach nein, -bezügers geht es um alteingesessene Ideologie: Wer nicht arbeitet, soll auch nichts essen. Zugrunde liegt eigentlich eine Gerechtigkeitsvorstellung: Alle müssen zum Wohl der Gemeinschaft beitragen. Das mit dem Arbeiten hat sich in den letzten zweihundert Jahren derart tief in die Gesellschaft eingebrannt, dass man es jetzt, im Zeitalter der vollautomatisierten Produktion, fast nicht mehr aus den Menschen heraus kriegt. Das Dumme ist dazu, dass man dieses Bewusst­sein, vielmehr dieses Unbewusstsein, dieses Es oder Überich an vielen anderen Enden der Welt zuerst in die Menschen hinein hämmern zu müssen glaubt, bevor sie sich dann entspannt in den Genuss der Sozialversicherung begeben können. Sozialbetrüger gehen in dieser Lesart wieder zurück in den vorindustriellen Faulheitszustand, nicht in den postindustriellen. Man muss zugeben, dass solche Wurstbeigaben durchaus nicht ohne Relevanz sind.

Aber im Boulevard geht sogar hohe Politik, und wie die Bild-Zeitung heute bei Euch Politik macht, das habt Ihr am Fall des geköpften Bundes­präsi­denten Wulff gesehen. Dabei ist ebenfalls deutlich sichtbar, ist dass der Boulevard keine zwingende politische Schlagseite hat; er behauptet sich einfach selber als eigenständiger Organismus, als Schmarotzer der öffentlichen Meinung oder je nachdem auch als ihr Rückgrat – darüber wäre zu diskutieren wie noch über manchen anderen Aspekt des eigenartigen Tieres mit verschiedenen Namen wie Publikum, Mehrheit, schweigende Mehrheit oder eben die öffentliche Meinung.

Wie auch immer: All dies hat sich vor drei Wochen zugetragen und ermangelt somit zwar nicht des Belehrungs- und Belustigungspotenzials, aber doch der Aktualität. Aber das Nichtaktuelle hat seinen eigenen Reiz. Ich möchte zur Illustration einen Brief an die Leser aus der Titanic-Ausgabe vom Dezember 2013 vorlesen: «Sie, Sprecher der Familie Quandt, sollten sich Gedanken um Ihren Job machen! Und zwar deshalb: Da sorgt CDU-Kanzlerin Angela Merkel gerade dafür, dass es in der Europäischen Union vorerst keine strengeren Abgasnormen für Autos gibt, und Ihr Bröt­chen­ge­ber, die Quandt-Familie, spendet der CDU 690'000 Euro. Die schon seit ewigen, auch ziemlich dunklen Zeiten schwerreiche Quandt-Familie besitzt passenderweise den Autokonzern BMW, der schön von Merkels Blockade profitieren wird. Sie, Quandt-Sprecher, sagten dazu „Spiegel online“, es sei eine „sehr eindimensionale Betrachtungsweise“, die Spenden in Zusammenhang mit einem einzelnen politischen Entscheidungsprozess zu sehen. Und stellten damit klar: Wir von der Industrie kaufen nicht einzelne Entscheidungen, sondern alle. – Ob Ihre Chefs soviel Offenheit ebenfalls honorieren, bezweifeln jedoch Ihre Job-Coaches von der Titanic.» – Dieser kleine und präzise Hin­weis beleuchtet eine weitere zentrale Facette des sozialdemokratischen Regierens, egal, ob unter CDU/CSU oder unter der großen Koalition, welche oft etwas vergessen wird. Aber natürlich, die gehört ganz zentral mit dazu, sonst würde nämlich der sozialdemokratische Staat ganz und gar nicht funktionieren. Die öffentliche Meinung, dieses eigenartige Tier, gehorcht ihren eigenen Gesetzen und wird stets am Köcheln und Blubbern gehalten von Medien wie der Bild-Zeitung und populistischen Bewegungen aller Art; aber hinten dran, dort, wo die Entscheidungen gefällt werden, dort stehen mit jeder Garantie die herrschenden Eliten, die sich aber klugerweise in der modernen Gesellschaft aus dem Rampenlicht zurückgezogen haben, im Gegensatz zu solchen Tollpatschen wie der Multimilliardär Thaksim in Thailand, der tatsächlich seine Schwester Jingluck als Regierungschefin tanzen lässt. Das ist doch einfach doof. Der soll doch auch per Parteispende Einfluss nehmen, sonst denkt man noch, in Thailand herrschten ähnliche Verhältnisse wie in Italien.

Kommentare
24.03.2014 / 08:43 hikE, Radio Unerhört Marburg (RUM)
in Frühschicht 24.3.2014
gesendet. Passte so gut zur Mensa-Vitallinie "Zwei Bratwürstchen"... Danke!