arbeitszeitverkürzung. jetzt!

ID 46508
 
AnhörenDownload
interview mit dr. prof. mhossem massarrat von der attac ag arbeitfairteilen.
Audio
20:23 min, 19 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 17.02.2012 / 07:57

Dateizugriffe: 659

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Arbeitswelt, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: rabotz
Radio: RadioBlau, Leipzig im www
Produktionsdatum: 17.02.2012
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Arbeitszeitverkürzung. Jetzt!
I.
Arbeitszeitverkürzung gehört wieder auf die Tagesordnung. Anders sind große gesellschaftliche Probleme wie Massenarbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung nicht zu lösen. Wir brauchen einen neuen Arbeitszeitstandard von etwa 30 Stunden pro Woche. Diese „kurze Vollzeit“ ist nicht statisch, sondern nach persönlichen und beruflichen Situationen variierbar (Erziehungszeiten, Projektarbeit, Weiterbildung etc.), muss aber im Durchschnitt erreicht werden. Nach volks-wirtschaftlichen Berechnungen ist mit dieser neuen Normalarbeitszeit Vollbeschäftigung wieder herstellbar. Diese „Vollbeschäftigung neuen Typs“ ist möglich und nötig, weil die Produktivität kontinuierlich steigt. Wir benötigen heute für die Herstellung notwendiger Güter nur noch etwa die Hälfte der Zeit wie im Jahr 1960; das Arbeitsvolumen ist entsprechend gesunken, während die Erwerbsbevölkerung gewachsen ist.
II.
Dafür setzen sich Attac (AG ArbeitFairTeilen), die AG Alternative Wirtschaftspolitik (Memo-Gruppe), Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, kirchliche Arbeitnehmerorganisationen, Jugend-, Frauen- und Umweltgruppen sowie soziale Bewegungen ein. In einigen Teilen unseres Landes gibt es regionale Gruppen und Initiativen, die für dieses Ziel eintreten. Der jüngste Gewerkschaftstag von ver.di im September 2011 hat einen Neustart für die Debatte um Arbeitszeitverkürzung beschlossen. Dieser Neustart ist umfassend notwendig, um die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, sie fair und sicher zu gestalten. Die Initiatorinnen und Initiatoren wissen um die großen Herausforderungen bei der Wiederbesetzung und Durchsetzung der Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung. Gleichwohl: Wir wollen sie angehen – weil sie notwendig und vernünftig sind! Die Diskussion gehört in die Betriebe, die Gewerkschaften und die Gesellschaft – weil wir unsere Zukunft lebenswert gestalten wollen.
III.
Aus welchen Gründen halten wir diese Arbeitszeitverkürzung jetzt für dringend geboten?
1. Wir haben in Deutschland zurzeit eine Arbeitslosigkeit nicht von 3 Millionen, wie von der Bundesregierung behauptet, sondern von mindestens 6 Millionen: Realistisch müssen 1-€-Jobber, jugendliche und ältere Arbeitslose, Arbeitslose in Weiterbildung, kranke Arbeitslose, die „stille Reserve“ derer, die sich nicht mehr arbeitslos melden und die große Zahl unfreiwillig Teilzeit Arbeitender und geringfügig Beschäftigter zur offiziellen Zahl dazugerechnet werden. Arbeitszeitverkürzung ist für die allermeisten dieser Menschen die Voraussetzung dafür, (wieder) in (ausreichende) Erwerbsarbeit zu kommen. Insbesondere für junge Menschen schafft Arbeitszeitverkürzung Voraussetzung dafür, nach der Ausbildung übernommen zu werden. Auch dem (angeblichen) Fachkräftemangel wäre durch Arbeitszeitverkürzung statt durch Arbeitszeitverlängerung, wie von interessierter Seite behauptet, beizukommen:
insbesondere Frauen, die den Spagat zwischen beruflicher Tätigkeit und häuslicher Erziehungs- und Pflegearbeit besser bewältigen wollen, könnten mit kürzeren Arbeitszeiten entsprechend ihren vielfältigen Qualifikationen für die Betriebe gewonnen werden, ältere Beschäftigte können mit kürzeren Arbeitszeiten länger und gesünder im Arbeitsleben bleiben. Diese „kurze Vollzeit“ würde den prekär Beschäftigten in Minijobs und unfreiwilliger Teilzeit ermöglichen, ihre Arbeitszeit zu erhöhen. Befristet und in Leiharbeit Beschäftigte könnten übernommen und gleich bezahlt werden.
2. Zuviel Arbeit macht krank. Immer mehr Vollzeitbeschäftigte arbeiten über das verträgliche Maß hinaus – 60-Stunden-Wochen und mehr sind in vielen Bereichen keine Ausnahme. Psychische Erkrankungen aufgrund von Arbeitsüberlastung sind inzwischen der häufigste Krankschreibungsgrund. Ab der 8. Arbeitsstunde nehmen berufsbedingte Erkrankungen und Arbeitsunfälle dramatisch zu. Erkrankungen wegen langer Arbeitszeiten – ähnlich wegen Arbeitslosigkeit – stellen für die Krankenkassen und damit für die Versicherten eine enorme und wachsende finanzielle Belastung dar.
3. Arbeitzeitverkürzung brauchen wir für die Gleichstellung von Frauen und Männern und für die Familien. Nur eine „kurze Vollzeit“ für alle anstelle langer Vollzeit für Männer und kurzer Teilzeit für Frauen eröffnet beiden Geschlechtern die Chance auf existenzsichernde und gleichberechtigte Teilhabe und Entwicklungsmöglichkeiten in der Erwerbsarbeit. Frauen in Minijobs und unfreiwilliger Teilzeit können ihre Arbeitszeit aufstocken, Männer können ihre Erwerbsarbeit reduzieren und haben mehr Zeit für Haus- und Sorgearbeit. Die „kurze Vollzeit“ für alle ist Voraussetzung für die geschlechtergerechte Aufteilung jeglicher Arbeit: Erwerbsarbeit, Hausarbeit, Erziehungs- und Pflegearbeit. Nur mit solchen kurzen Arbeitszeiten haben wir außerdem genug Zeit, Familiennachwuchsplanung zu realisieren und uns um diesen wie um pflegebedürftige Angehörige in angemessener und würdiger Form zu kümmern. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, nicht nur eine tarifliche oder gewerkschaftliche Forderung.
4. Neben der Pflege von Beziehungen, von Kindern und Alten, brauchen wir kürzere Arbeitszeiten auch zur Pflege der Natur. Arbeitszeitverkürzung ist die einzige Beschäftigung sichernde, Beschäftigung schaffende Alternative zum Wachstum, das unser Klima, unsere Gesundheit und so unsere Lebensgrundlagen ruiniert.
5. Nicht zuletzt brauchen wir Arbeitszeitverkürzung, um uns gesellschaftlich, ehrenamtlich und politisch betätigen zu können. Politische Beteiligung braucht Zeit, die Vollzeitbeschäftigte oft nicht haben, während Erwerbslose durch Verlust von Zeitstruktur, Isolation und Schamgefühle behindert werden, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren. Arbeitszeitverkürzung ist ein gutes Mittel gegen den oft beklagten Rückgang der politischen Beteiligung und so Voraussetzung für die demokratische Kontrolle politischer Prozesse auf allen Ebenen. Die Massenarbeitslosigkeit hat u.a. zu einer strukturellen Schwächung von Gewerkschaften beigetragen mit dem Ergebnis gesunkener Löhne, verlängerter Arbeitszeiten und der Ausdehnung prekärer Beschäftigung. Die verbreitete Angst vor Arbeitslosigkeit, die Angst vor
dem Abrutschen in Hartz IV lähmt Beschäftigte und Gewerkschaften und erzwang Konzessionsbereitschaft für „Arbeit um jeden Preis“. Jede/r Arbeitslose weniger, die / der durch Arbeitszeitverkürzung wieder in Beschäftigung kommt, stärkt die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften.
IV.
1. Trotz all dieser guten Gründe stehen viele Beschäftigte der Arbeitzeitverkürzung skeptisch gegenüber. Sie haben in den letzten Jahren die Erfahrung von Reallohnverlusten gemacht und fürchten bei Arbeitzeitverkürzung weitere Einkommenseinbußen. Teilzeitarbeit nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz, Arbeitszeitverkürzung (Kurzarbeit) in Krisenzeiten mit Lohnverlust bilden dafür den Erfahrungshintergrund. Reallohnverluste und der enorm gewachsene Niedriglohnsektor führen dazu, dass viele Beschäftigte nur mit Überstunden über die Runden kommen. Deshalb ist Arbeitszeitverkürzung nur mit Lohnausgleich machbar. Obwohl rechnerisch ein voller Lohnausgleich für alle tragbar wäre, scheint er wegen der Schwäche der Verhandlungspositionen der Gewerkschaften in vielen Bereichen gegenwärtig nicht durchsetzbar. Ein voller Lohnausgleich mindestens für die unteren und ein Teillohnausgleich für die mittleren Einkommensgruppen ist auf jeden Fall erforderlich und durch Einsparungen bei den Kosten der Arbeitslosigkeit finanzierbar. Diese Kosten betragen jährlich ca. 83 Milliarden € nach Berechnungen des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. Darin enthalten: Arbeitslosengeld I und II, Steuerausfälle und Ausfälle bei den Sozialbeiträgen. Noch nicht enthalten sind die Folgekosten von Arbeitslosigkeit durch Krankheiten und durch soziale Isolation.
2. Ein weiterer Grund für die Skepsis vieler Beschäftigter ist die Befürchtung von weiterer Arbeitsverdichtung in Folge von Arbeitszeitverkürzung. Viele haben die Erfahrung gemacht, dass Arbeitszeitverkürzung für sie bedeutet, die gleiche Arbeit in kürzerer Zeit zu erledigen bzw. Arbeit von Teilzeitbeschäftigten mitmachen zu müssen. Insbesondere in indirekten Bereichen ohne definierte Personalbemessung (z.B. Forschung, Entwicklung, Sachbearbeitung) fand Arbeitszeitverkürzung häufig ohne Personalausgleich statt. Deswegen setzt Arbeitszeitverkürzung mit dem Effekt von mehr Beschäftigung Regelungen zum vollen Personalausgleich voraus. Das heißt: Neben Maschinenbesetzung, Stückzahlen, Akkordsätzen gehört auch die Definition realistischer Ziel- und Zeitvorgaben bei Projektarbeit und die Mitbestimmung von Betriebsräten bei Personalbemessung und -ausgleich dazu. Nur so kann gewährleistet werden, dass Arbeitszeitverkürzung nicht zu Arbeitsverdichtung und Arbeitsüberlastung sondern tatsächlich zu mehr Beschäftigung führt.
3. Viele Menschen in hoch qualifizierten Berufen arbeiten in bestimmten Lebens- und Projektphasen gerne lange, weil sie ihr Projekt fertig und den Job gut machen wollen. Gleichzeitig herrscht in Deutschland in vielen Betrieben eine Langzeitarbeitskultur, die die Karriere an die Bereitschaft bindet, zeitlich unbegrenzt verfügbar zu sein. Längeren Arbeitszeiten aufgrund konzentrierter Arbeit an definierten Projekten kann entsprochen werden, wenn der Zeitausgleich dafür verbindlich geregelt und garantiert ist – z.B. in Phasen
von Freizeit nach einer Phase überlanger Arbeit, z.B. in Weiterbildungsblöcken, Ausstieg auf Zeit mit garantierter Rückkehr oder Sabbatjahren.
4. Trotz Skepsis: Der Wunsch der Mehrheit der Vollzeitbeschäftigten ist, kürzer zu arbeiten und während des gesamten Arbeitslebens ein gutes Leben führen zu können mit Zeit für sich, für die Familie, die Kinder, für Freunde und für kulturelle und politisch-gesellschaftliche Betätigung. Der Wunsch der Beschäftigten in unserem Land heißt weniger Arbeitszeit zu benötigen; Frauen etwas weniger, Männer etwas mehr. Und wenn Teilzeitarbeit und Vollzeitarbeit durch die Anzahl der Beschäftigten geteilt wird, dann ist es tatsächlich so, dass die durchschnittliche Arbeitszeit fast genau 30 Stunden beträgt – nur eben sehr ungleich verteilt. Das kann und soll durch Arbeitszeitverkürzung zunächst in Richtung 30-Stunden-Woche verändert werden – mit vollem Lohn- und Personalausgleich. Der Reichtum unseres Landes und die Gewinne der Unternehmen erlauben einen solchen Schritt, das Elend der jahrelangen Massenarbeitslosigkeit erfordert diesen Weg ebenso wie die steigende Produktivität und die Grenzen des Wachstums.
V.
Arbeitszeitverkürzung kann wieder die Stoßrichtung der Arbeitszeitpolitik werden, wenn Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Kräfte sich verbünden. Nötig ist eine gesellschaftliche Bewegung, in deren Verlauf das Arbeitszeitgesetz verbessert wird, in der Tarifverträge in Richtung Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich vereinbart werden und eine erweiterte Mitbestimmung der Beschäftigten und ihrer Betriebsräte über den Personalausgleich eine Leistungsverdichtung verhindert. Dafür steht die Initiative „Arbeitszeitverkürzung jetzt!“ Wir laden ein und fordern auf zu Diskussionen darüber in Betrieben, Gewerkschaften und Universitäten, in Kirchen und Krankenkassen, in Frauen- und Umweltschutzbewegung, in den sozialen Bewegungen und Erwerbsloseninitiativen, in Parteien und Stiftungen. Oktober 2011, Berlin, Bremen, Gelsenkirchen, Hannover Heinz-Josef Bontrup, Stephan Krull, Mohssen Massarrat, Margareta Steinrücke Wer Interesse an Mitarbeit hat, wer mit uns in Kontakt treten möchte, wendet sich bitte an
Professor Mohssen Massarrat: mohmass@uos.de Politisches und soziales Engagement braucht auch finanzielle Unterstützung. Dazu haben wir ein Spendenkonto eingerichtet. Jeder Betrag hilft uns, das Thema Arbeitzeitverkürzung voranzubringen: Sparkasse Bremen BLZ 29050101, Konto 80644511 – Margareta Steinrücke – Arbeitszeitverkürzung jetzt Weiterführende Daten, Fakten und Argumente zu Arbeitszeitverkürzung:
- Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit „Arbeitszeitverkürzung und Ausbau der öffentlichen Beschäftigung jetzt!“ – Bontrup / Massarrat, Ossietzky-Verlag sowie
http://www.attac-netzwerk.de/ag-arbeitfa...
- Bontrup / Melz / Niggemeyer – ArbeitFairTeilen; attac Basistext, VSA 2007
- Krull / Massarrat / Steinrücke – Schritte aus der Krise, VSA 2009
- Gruber / Haug / Krull – Arbeiten wie noch nie? Argument-Verlag 2010
- ABC der Arbeitszeitverkürzung, www.bremer-arbeitszeitinitiative.de, 2011

Kommentare
17.02.2012 / 12:38 redaktion_A, Radio Helsinki, Graz
ist geplant für 20.2.2012 in aus den freien radios
thx!